08.03.2006 / LOKALAUSGABE / DINSLAKEN
LESUNG / Bei Daniel & Haibach gabs ein Wiedersehen mit dem früheren
Intendanten der Burghofbühne. Er machte die Buchhandlung zur
Bühne.
VOERDE. Ein Wiedersehen mit Hanfried Schüttler ermöglichte
der Verein r(h)ein-kultur-welt in der Reihe "Wagnis und Weg".
Der Ex-Intendant der Burghofbühne las und spielte am Dienstag
bei Daniel & Haibach in Voerde Gotthold Ephraim Lessing. Lessings
gesellschaftspolitische und religionskritische Positionen waren
und sind ein Wagnis. Wir, so Schüttler, befinden uns weiter
auf dem Weg zur Aufklärung. Oder endete diese am 11. September
2001?
Hanfried Schüttler, in schlichtem Schwarz gekleidet, ist ein
Mann des Theaters, "der Spielwiese für Intellektuelle".
Er liest, analysiert, macht die Buchhandlung zur Bühne. Spielend
nutzt er den Raum, bringt Lessings Worte unter die Leute. Eine Handpuppe
ist Dialogpartner für den weisen Nathan. Bürgerliches
Theater, Theater fürs Volk? Lessing zog keine Schranken, er
richtete sich an den selbstständig denkenden Menschen. Der
Appell des späteren "Klassikers": "Wir wollen
weniger erhoben und fleißiger gelesen sein." Lessing
ist Pflichtlektüre der Oberstufe, Schüler sah man Dienstag
nicht.
Dabei betonte Schüttler die Modernität Lessings, ohne
auf den historischen Kontext zu verzichten. Zog Parallelen zwischen
Friedrich II., der den Siebenjährigen Krieg als Präventionsschlag
deklarierte, und der Großmacht im Kampf gegen "Schurkenstaaten".
Analysierte heutige "Klassenschranken", die sich in Zeiten
von Hartz IV nicht mehr im Geld, sondern in der Bildung manifestieren.
Verglich "Philotas" mit Selbstmordattentätern. Lessings
Überzeugung: "Alles, was Blut kostet, ist kein Blut wert".
Auch die Ringparabel ist brisanter denn je. Der Autor schrieb, er
wäre froh, wenn nur einer unter Tausend nach der Lektüre
seine Religion in Frage stelle.
Schüttler baut den Aufklärer Lessing gegen den Aufklärungsdespoten
Friedrich II. auf. Der Preußenkönig setzt auf Französisch,
Lessing spricht deutsch für das Volk. Friedrich verfüttert
Hunderttausende als Kanonenfutter, Lessing erklärt, Vaterlandsliebe
sei eine heroische Schwäche, der er gerne entbehre. Trotzdem
wird er für den Staat arbeiten. Verarbeitet den Widerspruch
in der Fabel von Löwe und Esel. Opportun ist, was dem Mächtigen
nützt, Aufsteigen kann man dadurch nicht.
Dabei dachte der Begründer des bürgerlichen Trauerspiels
radikaler, als er handelte: Die bürgerliche Gesellschaft müsse
noch ganz aufgehoben werden. Der Mensch werde dann erst gut regiert
werden, wenn er keiner Regierung mehr bedürfte. So zitierte
ihn ein Freund. Die Hörer bedachten Schüttler mit lang
anhaltendem Applaus.
BETTINA SCHACK
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